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Reden der Oberbürgermeisterin der Stadt Chemnitz

Rede von Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig anlässlich der Gedenkveranstaltung an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2015, 10 Uhr, Park der Opfer des Faschismus

Heute vor 70 Jahren befreiten sowjetische Soldaten das Vernichtungslager Auschwitz. Der Name Auschwitz gilt seither als Symbol für den beispiellosen Massenmord. Auch in Chemnitz wird wie in ganz Deutschland am 27. Januar der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Seit 2005 begeht man diesen Tag als internationalen Holocaust-Gedenktag. Der Tag steht, wie Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig heute Vormittag auf der Gedenkveranstaltung am Mahnmal im Park der Opfer des Faschismus charakterisierte, nicht nur für das Erinnern sondern auch für das Mahnen:

„Auch 70 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus ergreifen und berühren mich die Zeitzeugenberichte. Ich hoffe, dass ich dieses intensive Einlassen auf die grausamen Tatsachen dieser Menschheitsverbrechen mit ganz vielen Menschen aller Generationen teilen kann. Es ist ein wesentlicher Teil des Fundaments, auf dem sich die Verantwortung für heutige und zukünftige Entscheidungen gründet.“
 
„Der Zweite Weltkrieg, die Verfolgung und Repression haben über 50 Millionen Menschen das Leben gekostet. Und viele Millionen wurden zu Flüchtlingen. Sie konnten oft nur eines retten, ihr Leben. Darauf angewiesen, dass es ein Land, dass es einen Zufluchtsort gibt, wo sie bleiben können, um zu überleben. Auf dieser Tatsache gründet sich das individuelle Recht auf Asyl in unserem Grundgesetz“, so die Oberbürgermeisterin, die hervorhob, dass Frieden für viele Regionen in der Welt noch eine Utopie ist: »Es gibt derzeit so viele Flüchtlinge wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.“
 
Dem Thema Verfolgung und Flucht galten auch die Rezitationen von Schülern des Georgius-Agricola-Gymnasiums, die die Veranstaltung gestalteten. So trugen Paloma Rauer und Quynh Anh Nguyen die Gedichte „Sand im Getriebe“ von Günter Eich und „Nachts“ der jüdischen Lyrikerin Mascha Kaleko vor. Die 15-jährige Quynh Anh Nguyen rezitierte das Gedicht des jüdischen Lyrikers Erich Fried „Der Überlebende (nach Auschwitz)“. Selbst durch Flucht der Verfolgung durch die Nationalsozialisten entkommen, thematisiert Fried darin eine paradoxe Erfahrung: Es gibt Schuld nicht nur bei den Tätern, sondern Schuldgefühle auch bei den der Vernichtung entkommenen Überlebenden.

 

Rede von Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig anlässlich der Gedenkveranstaltung an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2015, 10 Uhr, Park der Opfer des Faschismus

– Es gilt das gesprochene Wort. –
 
Sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages und des Sächsischen Landtages,
sehr geehrte Stadträtinnen und Stadträte,
sehr geehrter Herr Rotstein
sehr geehrter Herr Sonder,
liebe Chemnitzerinnen und Chemnitzer,
liebe Schülerinnen und Schüler des Georgius-Agricola-Gymnasiums,
 
wir sind hier zusammengekommen, um allen Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu gedenken.
Es ist 70 Jahre her, dass mit der Befreiung aller von Deutschland überfallenen Länder und von Deutschland selbst durch die Alliierten der Antihitler-Koalition das ganze Ausmaß der Menschheitsverbrechen des NS-Regimes offenbar wurde.
 
Die Befreiung der Konzentrationslager – Auschwitz-Birkenau am 27. Januar 1945 – zeigte ein Deutschland, dass nicht nur mit seiner Wehrmacht andere Länder überfiel und Millionen Menschen tötete.
 
Sondern es wurde auch offenbar, dass dieses Land systematisch Menschen verfolgte, quälte, tötete. Jede und jeder konnte Opfer werden. Das oft junge, hoffnungsvolle Leben wurde ausgelöscht, weil es das Leben von Juden, Christen, Sinti und Roma, von Behinderten, von politisch Andersdenkenden, von Unangepassten, von Homosexuellen oder Menschen war, die den Vorstellungen der NS-Ideologie nicht entsprache. Allein 6 Millionen Juden wurden qualvoll ermordet.
 
Menschen wurden zu Opfern, weil sie scheinbar anders waren. Die Täter waren Schergen des Nazi-Regimes – aber nicht nur sie. Mittäter waren auch die, die geschwiegen haben. Weggesehen. Weil sie nicht wissen wollten, was im Haus mit ihren Nachbarn geschah. Und Mittäter waren vorallem auch all jene, die in Verwaltungen und Behörden – sowie auch hier in Chemnitz – die systematische Massenvernichtung mit Vorbereiteten.
 
Hannah Arendt hat diese Mittäter empathisch schonungslos analysiert: Die Zuständigen haben sich verweigert die Folgen ihres Tuns zu bedenken. Zuständig ohne Menschlichkeit.
 
Anrede,
 
auch 70 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus ergreifen und berühren mich die Zeitzeugenberichte und Dokumente. Und ich möchte es so sagen: Ich hoffe, dass ich dieses intensive Einlassen auf die grausamen Tatsachen dieser Menschheitsverbrechen mit ganz vielen Menschen aller Generationen teilen kann. Die wenigen noch lebenden Zeitzeugen haben eine eindringliche Bitte an uns: Das wir für Sie als Zeitzeugen eintreten.
 
Das ist ein wesentlicher Teil des Fundaments, auf dem sich die Verantwortung für heutige und zukünftige Entscheidungen gründet. Unser Grundgesetz mit seinen individuellen Rechten auf Menschenwürde, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit wurde auf diesem Fundament niedergeschrieben und ist selbstbewusster und ganz selbstverständlicher Teil unseres Zusammenlebens.
 
Die Bundesrepublik ist ein anerkanntes Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft. Wir bereisen als Touristen, als Mitarbeiter deutscher Unternehmen oder Institutionen, als Sportler, Künstler oder Wissenschaftler die Welt. Jugendliche in China, Japan, Afrika und Europa kennen die Namen der Fußballspieler unserer WM-Elf.
 
Wir erfahren dabei viel Respekt und Anerkennung für unser Land. Für unseren Fleiß, für unsere Kultur, für die Wirtschaftskraft, unsere starke Demokratie, für unseren Sozialstaat.
Im Angesicht der Verbrechen in der Zeit des NS-Regimes ist das ein großartiges Vertrauen in die Friedfertigkeit und Menschlichkeit des deutschen Volkes heute.
 
Für nicht wenige Menschen auf der Welt ist unser Land zu einem Sehnsuchtsort geworden, den sie kennenlernen wollen. Stolz präsentieren wir Berlin, München, Dresden oder die Andy-Warhol-Ausstellung in Chemnitz.
 
Anrede,
 
der Zweite Weltkrieg, die Verfolgung und Repression haben über 50 Millionen Menschen das Leben gekostet. Und viele Millionen Menschen wurden zu Flüchtlingen.
Sie konnten oft nur eines retten, ihr Leben. Darauf angewiesen, dass es ein Land, dass es einen Zufluchtsort gibt, wo sie bleiben können, um zu überleben. Auf dieser Tatsache gründet sich das individuelle Recht auf Asyl in unserem Grundgesetz.
 
Wir leben seit fast 70 Jahren in Frieden. Für viele Regionen in der Welt gilt das nicht. Es gibt derzeit so viele Flüchtlinge wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.
 
Weil Deutschland ein geachtetes, anerkanntes Land ist, kommen heute Flüchtlinge als Asylbewerber zu uns. Sie schenken uns Vertrauen.
 
Deshalb ist es an uns – gerade im Wissen um unsere Geschichte – mit diesem Vertrauen gut umzugehen. Ich wünsche mir eine offene Stadt. Offen für Ideen. Offen für andere Lebensentwürfe. Offen für alle Menschen. Und nie wieder Zuständigkeit ohne Menschlichkeit.
 
Anrede,
 
wer wenig weiß, glaubt viel. Und glaubt vielleicht den Falschen, die so verlockend einfache Antworten auf Probleme unserer Zeit und unserer Gesellschaft bieten. Die unterscheiden zwischen uns und anderen, die definieren, wer zu uns gehören soll und darf. Die Selektieren.
 
Die Demonstranten von 1989 – in Plauen, Leipzig, Dresden, Karl-Marx-Stadt wollten: Reisefreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit. „Wir sind das Volk“ ist der Ruf für ein Land ohne Mauern, auch im Kopf.
 
Das gilt.
 
Und es ist unsere Verantwortung, für die Werte einzustehen, die unsere demokratische Gesellschaft heute ausmachen: Die Würde des Menschen. Sie mögen uns selbstverständlich vorkommen in unserem Land, das so lange Frieden erlebt hat wie nie zuvor. Und in unserer Demokratie, in der uns manche Diskussionen Entscheidungsprozesse so quälend langsam erscheinen.
 
Doch es sind Tage wie der heutige, an denen wir uns daran erinnern, dass diese Werte –nicht selbstverständlich sind. Sondern dass wir es sind, wir alle, die für diese Werte einstehen müssen. Selbstbewusst. Als Zeitzeugen in Vertretung in Verantwortung. Und wann immer es notwendig ist.

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